* 16 *

Die schleimige braune Hand tastete sich an der Seite des Kanus entlang auf Jenna zu. Dann bekam sie das Paddel zu fassen. Jenna zog das Paddel weg und wollte damit gerade kräftig auf die schleimige Pranke einschlagen, als eine Stimme rief. »He! Das kannste dir sparen.«
Ein seehundähnliches Geschöpf mit glitschigem braunem Fell zog sich so weit hoch, dass gerade sein Kopf aus dem Wasser schaute. Zwei leuchtende schwarze Knopfaugen glotzten Jenna an, die immer noch mit erhobenem Paddel dasaß.
»Wie wär’s, wennde das weglegst? Sonst verletzt sich noch jemand. Wo wartn ihr so lange?«, fragte das Geschöpf mürrisch mit tiefer gurgelnder Stimme und breitem Marschlandakzent. »Ich warte schon Stunden. Und friere. Wie würde euchn das gefallen? Innern Kanal stecken und Däumchen drehen?«
Alles, was Jenna herausbrachte, war ein leises Quieksen. Ihre Stimme versagte den Dienst.
»Was ist denn, Jen?«, fragte Nicko, der hinter Junge 412 saß, nur um sicherzugehen, dass er keine Dummheiten machte, und das Geschöpf deshalb nicht sehen konnte.
»Da ... das ...« Jenna deutete auf das Geschöpf, das ein beleidigtes Gesicht machte.
»Was meinste denn mit das?«, fragte es. »Meinste mich? Meinste den Boggart?«
»Boggart? Nein. Das habe ich nicht gesagt«, murmelte Jenna.
»Aber ich. Boggart. So heiße ich nämlich. Boggart. Boggart, der Boggart. Schöner Name, findste nich?«
»Doch, doch«, antwortete Jenna höflich. »Hübsch.«
»Was ist denn los?«, fragte Silas, der zu ihnen aufschloss. »Ruhig, Maxie. Aufhören, hab ich gesagt!«
Maxie hatte den Boggart entdeckt und bellte wie verrückt. Maxie erblicken und abtauchen war für den Boggart eins. Seit der berüchtigten Boggart-Jagd vor vielen Jahren, bei der Maxies Vorfahren eine maßgebliche Rolle gespielt hatten, war der Boggart der Marram-Marschen ein seltenes Geschöpf. Mit einem guten Gedächtnis.
In sicherer Entfernung tauchte der Boggart wieder auf. »Wollt ihr den etwa mitnehmen?«, rief er mit hasserfülltem Blick auf Maxie. »Davon hatse mir nix gesagt.«
»Höre ich da einen Boggart?«, fragte Silas.
»Ja«, antwortete der Boggart.
»Zeldas Boggart?«
»Ja«, sagte der Boggart.
»Hat Zelda Sie geschickt, um uns abzuholen?«
»Ja.«
»Fein«, sagte Silas erleichtert. »Dann folgen wir Ihnen.«
»Gut«, sagte der Boggart, schwamm tiefer in den Deppen Ditch hinein und nahm die übernächste Abzweigung.
Der übernächste Seitenarm war viel schmaler als der Deppen Ditch und wand sich im Mondlicht wie eine Schlange durch die schneebedeckten Marschen. Es schneite ununterbrochen, und kein Laut war zu hören bis auf das Gurgeln und Plätschern des Boggart, der vor den Kanus herschwamm, dann und wann den Kopf aus dem Wasser streckte und rief: »Folgtn ihr mir noch?«
»Was sollten wir denn sonst tun?«, sagte Jenna zu Nicko und paddelte den immer schmaler werdenden Kanal entlang. »Als ob wir woanders hin könnten.«
Aber der Boggart nahm seine Pflichten ernst und stellte dieselbe Frage immer wieder, bis sie zu einem Teich gelangten, von dem mehrere, zugewachsene Kanäle abgingen.
»Besser, wir warten ma auf die andern«, sagte der Boggart. »Ich möchte se nich verlieren.«
Jenna schaute sich um. Marcia und Silas waren weit zurückgeblieben. Nur er paddelte. Sie bedeckte mit beiden Händen den Kopf. Hinter ihr reckte sich die lange spitze Schnauze eines abessinischen Wolfshunds, aus der ein langer glitzernder Streifen Sabber troff. Direkt in Marcias Haar.
Silas steuerte das Kanu in die Mitte des Teiches und legte erschöpft das Paddel weg.
»Ich bleibe keine Sekunde länger vor diesem Hund sitzen«, erklärte Marcia. »Der sabbert mir die Haare voll. Das ist ja ekelhaft. Lieber steige ich aus und gehe zu Fuß weiter.«
»Würd ich aber nich empfehlen, Euer Majestät«, ertönte die Stimme des Boggart neben ihr aus dem Wasser. Er schaute zu ihr empor und bestaunte mit seinen schwarzen Augen, die durch sein braunes Fell blinzelten, ihren im Mondlicht funkelnden Gürtel. Auch wenn der Boggart ein Schlammbewohner war, so hatte er doch eine Schwäche für alles, was funkelte und glänzte. Und etwas so Funkelndes und Glänzendes wie Marcias Gürtel aus Gold und Platin hatte er noch nie gesehen.
»Euer Majestät werden hier doch nich einfach rumlaufen wollen«, sagte er respektvoll zu ihr. »Am Ende laufen Se noch dem Marschfeuer nach, und eh Se sich versehen, sitzen Se im Wabberschlamm fest. Dem Marschfeuer sind schon viele nachgelaufen, und keiner is wiedergekommen.«
Ein tiefes Knurren entrang sich Maxies Kehle. Das Fell in seinem Nacken sträubte sich, und plötzlich sprang er, einem uralten und unwiderstehlichen Wolfshundinstinkt gehorchend, ins Wasser zu dem Boggart.
»Maxie! Maxie! Oh, dieser dumme Hund«, schrie Silas.
Das Wasser im Teich war eiskalt. Maxie jaulte und paddelte wie wild zum Kanu zurück.
Marcia stieß ihn weg.
»Hier kommt mir der Köter nicht mehr rein«, entschied sie.
»Marcia, er wird erfrieren«, protestierte Silas.
»Und wenn schon.«
»Hierher, Maxie«, rief Nicko. »Komm schon, alter Junge.« Er packte Maxie am Halstuch und zog ihn mit Jennas Hilfe ins Boot. Das Kanu krängte bedenklich, doch Junge 412, der keine Lust hatte, wie Maxie ein Vollbad zu nehmen, hielt sich an einer Baumwurzel fest und verhindert so, dass es kenterte.
Einen Augenblick lang stand Maxie bibbernd da, dann tat er, was jeder Hund tun muss, wenn er nass ist: Er schüttelte sich.
»Maxie!«, riefen Nicko und Jenna.
Junge 412 sagte nichts. Er konnte Hunde nicht ausstehen. Die einzigen Hunde, die er kannte, waren die bissigen Wachhunde der Wächter, und obwohl er sah, dass Maxie anders war, fürchtete er ständig, von ihm gebissen zu werden. Und so war es für ihn ein weiterer sehr schlimmer Augenblick an diesem schlimmsten Tag in seinem Leben, als Maxie sich an ihn schmiegte, ihm den Kopf auf den Schoß legte und einschlief. Maxie hingegen war zufrieden. Die Schaffelljacke von Junge 412 war warm und gemütlich, und die restliche Fahrt über träumte der Wolfshund von zu Hause, wo er mit all den anderen Heaps zusammengerollt am Ofen lag.
Der Boggart war weg.
»Boggart? Wo sind Sie, Mr Boggart?«, rief Jenna höflich.
Es kam keine Antwort. Nur die tiefe Stille, die in den Marschen einkehrt, wenn eine Schneeschicht Sumpf und Morast bedeckt, ihr Gluckern und Gurgeln dämpft und alle schleimigen Geschöpfe in die Tiefe des Schlammes zurücktreibt.
»Jetzt hat dein blöder Köter den netten Boggart verscheucht«, sagte Marcia erbost zu Silas. »Wozu musstest du ihn auch mitnehmen.«
Silas seufzte. Er hätte sich nicht im Traum vorgestellt, dass er eines Tages mit Marcia Overstrand in einem Boot sitzen würde. Aber wenn er es sich in einem schwachen Moment vorgestellt hätte, dann genau so, wie es sich jetzt abspielte.
In der Hoffnung, die Hüterhütte, in der Tante Zelda wohnte, zu entdecken, suchte Silas mit den Augen den Horizont ab. Die Hütte stand auf der Insel Draggen, einer der vielen Inseln im Marschland, die erst dann zu richtigen Inseln wurden, wenn das Land überflutet wurde. Doch alles, was Silas sehen konnte, war eine weiße Ebene, die sich in alle Richtungen dehnte, so weit das Auge reichte. Zu allem Unglück stiegen auch noch Dunstschwaden aus den Sümpfen auf und trieben übers Wasser, und ihm war klar, dass sie die Hütte bei dichtem Nebel nie finden würden, wie nahe sie ihr auch sein mochten.
Dann fiel ihm ein, dass die Hütte verzaubert war. Das bedeutete, dass sie ohnehin niemand sehen konnte.
Wenn sie den Boggart jemals gebraucht hatten, dann jetzt.
»Ich sehe ein Licht!«, rief Jenna plötzlich. »Das muss Tante Zelda sein. Sie sucht uns. Seht doch, da drüben!«
Alle Augen blickten in die Richtung, in die ihr Finger wies.
Ein flackerndes Licht tanzte über die Marschen, als hüpfe es von Grasbüschel zu Grasbüschel.
»Sie kommt auf uns zu«, sagte Jenna aufgeregt.
»Von wegen«, sagte Nicko. »Sieh doch, sie entfernt sich.«
»Vielleicht sollten wir ihr entgegengehen«, schlug Silas vor.
Marcia hatte Bedenken. »Woher wollt ihr denn wissen, dass es Zelda ist? Das könnte jeder sein. Oder sonst etwas.«
Alle verstummten bei dem Gedanken, dass da ein Etwas mit einer Lampe auf sie zukam, bis Silas sagte: »Es ist Zelda. Da, ich kann sie sehen.«
»Nein, kannst du nicht«, widersprach Marcia. »Das ist das Marschfeuer, von dem uns der hochintelligente Boggart gewarnt hat.«
»Marcia, ich werde doch Zelda kennen. Ich kann sie jetzt deutlich sehen. Sie trägt eine Lampe. Sie hat so weit zu gehen, und wir sitzen einfach nur da. Ich gehe ihr entgegen.«
»Der Volksmund sagt: Narren sehen im Marschfeuer, was sie wollen«, giftete Marcia. »Und du hast gerade bewiesen, dass er Recht hat, Silas.«
Silas machte Anstalten, aus dem Kanu zu steigen, aber Marcia hielt ihn am Umhang fest.
»Platz!«, befahl sie, als rede sie mit Maxie.
Doch Silas riss sich los wie ein Traumwandler, angezogen von dem flackernden Licht und dem Schatten Tante Zeldas, der zwischen den Dunstschwaden abwechselnd auftauchte und wieder verschwand. Mal war sie verlockend nahe, drauf und dran, sie zu entdecken und zu einem warmen Feuer und einem weichen Bett zu führen, mal entfernte sie sich und forderte sie auf, ihr zu folgen und zu ihr zu kommen. Silas hielt es nicht mehr aus. Er wollte dem Licht nahe sein. Er kletterte aus dem Kanu und stapfte davon, auf das flackernde Licht zu.
»Dad!«, schrie Jenna. »Dürfen wir mitkommen?«
»Nein, das dürft ihr nicht«, sagte Marcia bestimmt. »Und ich werde den alten Narren zurückholen müssen.«
Marcia holte gerade Luft für den Bumerang-Zauber, als Silas strauchelte und der Länge nach auf den sumpfigen Boden fiel. Wie er so dalag, spürte er, dass sich der Sumpf unter ihm bewegte, als wühlten Lebewesen tief unten im Morast. Er wollte aufstehen, doch er konnte nicht. Es war, als klebe er am Boden fest. Er war vom Marschfeuer noch so verwirrt, dass er nicht begriff, warum er nicht vom Fleck kam. Er wollte den Kopf heben und nachsehen, was los war, doch es ging nicht. In diesem Augenblick erkannte er die schreckliche Wahrheit: Etwas zog ihn an den Haaren.
Er fasste sich an den Kopf, und zu seinem Entsetzen spürte er in seinem Haar kleine knochige Hände, die sich seine langen widerspenstigen Locken um die Finger wickelten und an ihm zerrten, ihn in den Sumpf hinunterzogen. Verzweifelt versuchte er, sich loszureißen, doch je mehr er sich wehrte, desto mehr verhedderten sich die Finger in seinem Haar. Langsam und unaufhaltsam zogen sie ihn in die Tiefe. Bald bedeckte der Morast seine Augen. Und bald, sehr bald würde er auch seine Nase bedecken.
Marcia sah, was geschah, doch sie war nicht so dumm, zu Silas zu rennen.
»Dad!«, schrie Jenna und stieg aus dem Kanu. »Ich helfe dir, Dad.«
»Nein!«, befahl ihr Marcia. »Nicht. Das will das Marschfeuer doch nur. Der Sumpf wird auch dich verschlingen.«
»Aber ... aber wir können doch nicht zusehen, wie Dad ertrinkt«, schrie Jenna.
Plötzlich stemmte sich eine untersetzte Gestalt aus dem Wasser, kletterte die Uferböschung hinauf und lief, gewandt von Grasbüschel zu Grasbüschel springend, zu Silas.
»Was tun Se denn im Wabberschlamm, Sir?«, fragte der Boggart unwirsch.
»Was?«, murmelte Silas, der die Ohren voller Schlamm hatte und nur das Gekreisch und Geheul der Kreaturen im Morast unter sich hörte. Die knochigen Finger zerrten weiter an ihm, und er spürte, wie ihn rasiermesserscharfe Zähne in den Kopf kniffen. Er wehrte sich verzweifelt, doch jede Gegenwehr führte nur dazu, dass er noch tiefer in den Morast gezogen wurde, begleitet von lautem Geschrei.
Entsetzt sahen Jenna und Nicko zu, wie Silas langsam versank. Warum unternahm der Boggart nichts? Jetzt gleich, bevor Silas für immer verschwand. Jenna hielt es nicht mehr aus. Sie sprang wieder aus dem Kanu, und Nicko machte Anstalten, ihr zu folgen.
Junge 412 wusste von dem einzigen Überlebenden eines Zugs Jungarmisten, der vor Jahren im Wabberschlamm verschollen war, alles über das Marschfeuer. Er hielt Jenna fest und versuchte, sie wieder ins Kanu zu ziehen. Wütend stieß sie ihn zurück.
Die plötzliche Bewegung erregte die Aufmerksamkeit des Boggart. »Bleib, wo de bist«, rief er eindringlich. Junge 412 zerrte noch einmal kräftig an Jennas Schaffelljacke, und sie plumpste ins Boot. Maxie winselte.
Die schwarzen Augen des Boggart blickten besorgt. Er wusste genau, wem die ineinander verschlungenen, verdrehten Finger gehörten, und er wusste, dass es mit ihren Besitzern immer Ärger gab.
»Diese verdammten Braunlinge!«, sagte er. »Gemeine Kerle. Ne Kostprobe Boggart-Atem gefällig, ihr hinterhältigen Biester?« Er beugte sich vor, holte ganz tief Luft und blies über die zerrenden Finger. Aus der Tiefe des Morastes vernahm Silas ein unerträgliches Kreischen: Es klang wie von Fingernägeln, die über eine Schiefertafel kratzten. Das Fingerknäuel löste sich aus seinem Haar, der Boden wackelte, und er spürte, wie sich die Kreaturen unter ihm davonmachten.
Er war gerettet.
Der Boggart half ihm, sich aufzusetzen, und rieb ihm den Schlamm aus den Augen.
»Hab ich Ihnen nich gesagt, das Marschfeuer wird Se in den Wabberschlamm locken?«, schimpfte der Boggart. »Und so isses auch gekommen, oder?«
Silas schwieg. Der stechende Geruch des Boggart-Atems, der noch in seinen Haaren hing, raubte ihm fast die Sinne.
»Nu haben Ses überstanden, Sir«, sagte der Boggart zu ihm. »Aber das war knapp. Das muss ich schon sagen. Seit Se die Hütte geplündert haben, hab ich keinen Braunling mehr anblasen müssen. Ah, Boggart-Atem is was Wunderbares. Manche mögen ihn nicht besonders, aber denen sag ich immer: ›Ihr werdet eure Meinung schnell ändern, wenn euch die Wabberschlammbraunlinge am Wickel haben.‹«
»Oh, äh, doch. Vielen Dank, Boggart«, stammelte Silas, immer noch benommen. »Haben Sie vielen Dank.«
Der Boggart führte ihn vorsichtig zum Kanu.
»Eure Majestät steigen besser vorne ein«, sagte er zu Marcia. »In dem Zustand kann er so’n Ding nicht fahren.«
Mit Marcias Hilfe wuchtete er Silas ins Boot, dann schlüpfte er ins Wasser zurück.
»Ich bring euch jetzt zu Miss Zelda, aber haltet mir bloß die Bestie vom Leib«, sagte er mit einem giftigen Blick Richtung Maxie. »Von dem Geknurre hab ich nen hässlichen Hautausschlag gekriegt. Ich bin mit Pusteln übersät. Hier, fühlen Se mal.« Der Boggart hielt Marcia sein pralles rundes Bäuchlein hin.
»Sehr freundlich von Ihnen«, sagte Marcia leise, »aber nein danke, nicht jetzt.«
»Vielleicht ’n andermal.«
»Bestimmt.«
»Dann mal los.« Der Boggart schwamm auf einen kleinen Kanal zu, den keiner zuvor bemerkt hatte.
»Folgtn ihr mir noch?«, fragte er, und er fragte es nicht zum letzten Mal.